Das Radler Cafe – nicht nur eine fixe Idee
Wir, das heißt Partnerin Susan, unser Sohn Bennet und ich leben in einem Dorf in Vorpommern. Das Leben in dem kleinen Ort hält uns nicht davon ab, sondern ermutigt uns, erfinderisch mit unserer Mobilität umzugehen. Wir kombinieren Auto, Fahrrad. Bahn, um Arbeit und Schule im 35-km-entfernten Nefubrandenburg in Einklang zu bringen.
Schon lange treten wir für eine Verkehrswende ein, erleben die vom motorisierten Verkehr vollgestopften und dominierten Städte. Lärm, Abgase, das ewige Warten an Straßen-Kreuzungen, die mit Blech zugekleisterten Parkflächen sind Phänomene einer auf Gewohnheit basierten „Normalität“. Wieviel attraktiver wären diese Asphalt-Burgen ausgestattet mit breiten Rad- und Fußwegen statt Abstell-Plätzen für mehr als zwei Meter breite und über 4 lange Blech-Kisten, die, die längste Zeit als Platzverschwender unser Stadtbild prägen und noch dazu meistens für den Transport einer einzelnen Person vorgesehen sind. Asphalt in Grünflächen umwandeln, Bäume statt Ampelanlagen, naturnahe Fuß- und Radfahrzonen werden schon heute in Städten der Zukunft umgesetzt. Lastenräder könnten einen Teil des Liefer-Verkehrs übernehmen und überdimensionierte SUV´s wären gänzlich verboten.
Auch wir können und wollen diese versiegelten Stadt-Landschaften nicht meiden. Gleichzeitig möchten wir diesen ausgereizten Motoren-Betrieb nicht zusätzlich belasten. Was tun?
Die Frage des eigenen Gewissens führte uns zu mehreren Antworten. Die so oft gescholtene fehlende Anbindung an den Öffentlichen Verkehr, gilt ebenso für unser 75-Einwohner-Dorf. Dennoch gibt es Lösungen, die abseits der gewohnheitsmäßigen Trägheit liegen. Um nach Neubrandenburg, Berlin oder Stralsund zu gelangen, fahren wir per Auto (frühmorgens oder bei schlechtem Wetter) zum 9 km entfernten Bahn-Haltepunkt oder radeln sieben Kilometer durch den Wald, um die Haltestelle zu erreichen. Wir parken das Auto bzw. schließen die Räder an den vorgesehenen Schließ-Bügeln an und setzen uns entspannt in den Zug. Für Materialien oder Einkaufs-Optionen führen wir unsere geräumigen Satteltaschen mit. Am Bahnhof in Neubrandenburg stehen unsere Stadt-Fahrräder für das schnelle und stressfreie Erreichen unserer Ziele bereit. Die gesamte Reisezeit ist unwesentlich länger, oftmals erledige ich Büro-Arbeiten während der Zugfahrt. Ausgeruht kann ich nun die Geschwindigkeit der Stadt ertragen.
Ich möchte hier nicht verschweigen, dass ich unseren VW Bully für meine Schul-Projekt-Arbeit nutze. Als Freischaffender verdiene ich mein Geld mit Anti-Diskriminierungs-Arbeit an verschiedenen schulischen Einrichtungen. Dafür benötigen mein afrikanischer Kollege und ich Ausstattung für Theater und zahlreiche afrikanische Trommeln. Die Fahrten nutze ich gleichzeitig um Großeinkäufe und größere Besorgungen zu erledigen. Mein Fahrrad ist immer an Bord, was bedeutet, daß ich den Bus außerhalb der Stadt abstelle, um dann radelnd meine Ziele zu erreichen.
Unsere alljährlichen Familien-Reisen führen uns oftmals über 1000 km in verschiedene Richtungen, selbstverständlich auf unseren Fahrrädern. Selbst drei Kinder auf eigenem Rad oder im Fahrrad-Anhänger, hinderten uns nicht, Ostsee-Strände oder Zeltplätze an Binnenseen radelnd zu erreichen. Mit 13 Jahren fuhr unser Sohn bereits 1100 km von Vorpommern an die Donau nach Bayern. Freiheit pur bedeutet uns mehr als in einem geschlossenem Wohnzimmer Europa´s naturnahe Orte der Stille mit dem Getöse eines Wohnmobils zu stören.
Nach einigen Flugreisen im frühen Erwachsenenalter bin ich als reifer und Verantwortung tragender Familienvater der Folgen für die nächsten Generationen bewusst. Zuletzt vor 23 Jahren – der Begriff „Klimawandel“ existierte noch nicht – bestieg ich letztmals ein Flugzeug.
Wind und Wetter ausgesetzt, Wald-Duft einatmend, radle ich wieder zur Haltestelle, um den nächsten Zug zu besteigen. Dem Schaffner strecke ich voller Zuversicht mein 9-€-Ticket entgegen und möchte meinen persönlichen Anteil an der Zukunftsfähigkeit unseres Planeten weiterhin steigern.
Leo Kraus, Leiter des proVie Theaters Hohenbüssow