Weihnachten mal anders

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(aus dem Tagebuch des Autors Leo Kraus)

Ich bin 25 Jahre alt, vor drei Jahren hatte ich gerade meine Karriere zum Tatort-Komissar, also meinen Polizeiberuf auf Lebenszeit, hingeschmissen, dazwischen die Hochschulreife absolviert, ein Jahr lang die Hochschule für Landwirtschaft besucht und krachend gescheitert. Ich lebte 5 Monate im Lappland, in Nordnorwegen, dort Kühe gemolken, Ziegen geschlachtet, Puten gerupft, Schneehühner geschossen, auf Elchsjagd dabei gewesen und mit dem Trekker durch die Tundra-Landschaft getrekkt, wo wir uns von frisch-gefangenen Forellen im Jurten-Zelt zusammen mit den Jägern ernährt haben. Jetzt aber zog es mich in den Süden, zur Sonne, in die Wärme. Aber nicht ans Mittelmeer oder auf die Kanaren, nein, ich war aus anderem Holz geschnitzt, Brasilien war der Ort meiner Träume, Urwald, Amazonas, indigene Völker. Also machte ich mir einen Plan: Spanisch lernen (ich wußte nicht, daß in Brasilien Portugiesisch gesprochen wird), eine Überlebensstrategie finden, Zeit- und Reiseplan. Ich besorgte mir Spanisch-Lernbücher mit Kassetten und stöberte in Zeitungen und im Arbeitsamt nach Arbeitsmöglichkeiten, am besten im gastronomischen Bereich, weil ich mir davon versprach, im Ausland am besten Geld verdienen zu können. Und ja, ich hatte just in der Adventszeit ein Kellner-Angebot in einer bayerischen Gaststätte in den Allgäuer Alpen gefunden. Ich hatte keinerlei Erfahrung, aber ich war ja teilweise im Gaststättengewerbe bei meinen Verwandten aufgewachsen. Kleine Hemmnisse stellten sich in den Weg: Da tauchte z.B. Janneau aus der Elfenbeinküste aus dem Nichts in unserem kleinen Dorf vor unserer Haustür auf. Auf meiner Reise zurück aus Nord-Europa hatte ich ihn in einer Kopenhagener Kneipe getroffen, er war ohne Wohnung und auf der Suche. Ich gab ihm selbstverständlich meine Adresse und jetzt war er da mit Koffer und ohne Zuhause. Also bürgerte ich ihn in meinem Elternhaus ein. Ich überließ ihm das leer stehende Schlafzimmer meiner Schwestern, das ich zuletzt genutzt hatte. Und dann verabschiedete ich mich. Janneau sprach nicht deutsch, sondern Englisch und Französisch. Mutti und Papa bayerisch und schwäbisch. Auf in die Berge nach Immenstadt. Gefordert waren schwarze Bügelfaltenhose, weißes Hemd, schwarze Fliege, ein ärmelloses Westchen bekamen wir von den Gastleuten. Mir wurde ein winziges Zimmerchen mit Bett und Schrank zugewiesen. Die Arbeitszeiten wurden besprochen und daß wir, ein zweiter Mitbewerber war am Start, in makellosem äußeren Erscheinen unsere Kellner-Arbeit zu verrichten haben. Geputzte Schuhe, faltenfreie Kleidung, gekämmtes Haar gehörten dazu. Im Vorfeld ließ ich mir schon meine Mähne schneiden, die mir nach den Polizei-Jahren so wichtig war. Allerdings ließ ich einen 15 cm langen geflochtenen Haarstrang, ein Mini-Haarschwänzchen stehen.

Die Gastwirtin, eine strenge resolute, aus dem östlichen Europa kommende Frau, stieß sich an diesem zu meiner Identität gehörenden Merkmal. So stellte sie mir gleich anfangs eine unmißverständliche Bedingung. Es fiel mir sehr schwer, aber mein Plan war ja gemacht. Schnips und weg war er. Wir wurden eingewiesen. Pünktlich um 7 Uhr Frühstück für die Angestellten, 7.30 Einrichten der Gaststube. Tischdecken wechseln, Vorhänge öffnen, Stühle stellen, Aschenbecher leeren, Salz-, Pfefferstreuer, Servietten kontrollieren, Pflanzen gießen. Auf dem größten Tisch stand ein eisernes Portal in dem eingraviert auf einem hängenden Schild STAMMTISCH stand. Dieser Tisch hatte es auf sich. Wir bekamen eine gesonderte Einweisung. Wir mußten uns einprägen, also auswendiglernen, daß Herr Fischer immer um 8.30 kommt, sich genau auf diesen Platz setzt und immer ein großes Weizenbier trinkt. Herr Schwarz kommt eine Viertelstunde später, setzt sich genau gegenüber und trinkt immer ein Achtele Müller-Thurgau weiß, um neun Uhr kommt Herr Bergmüller, der Max, und raucht seine Zigarre, der Aschenbecher hat deswegen schon vor seiner zielgenauen Ankunft haargenau am bekannten Ort postiert zu werden. Linus Obermeier trinkt immer aus einem kleinen Bierglas, das aber nie leer sein sollte. Die Uschi hat immer ein großes Glas Bordeaux an ihrem angestammten Platz. Die Schafkopfkarten und dazugehörige Münztellerchen haben am richtigen Ort zum späteren Einsatz bereit zu stehen. Keiner der Stammgäste braucht nach einem neuen Getränk zu fragen, der Kellner hat alles im Blick und eine Beschwerde oder nur eine Anfrage nach einer Bestellung hat den Exodus, also das Aus, die Rote Karte, für den Kellner zur Folge. Die Abrechnung verläuft anders als bei den anderen Gästen. Normalerweise zücken wir unseren kleinen Schreibblock, fragen nach den verzehrten Speisen, den getrunkenen Getränken, schreiben die Preise exakt untereinander auf den Block und rechnen dann nach klassischer Schulmethode den Gesamtpreis aus. Das sollte schnell und richtig von statten gehen, davon hängt auch das gezahlte Trinkgeld ab. Die einzelnen Preise mußten wir ebenso auswendig im Kopf haben. In der Hosentasche befand sich die große Geldbörse, die ebenso immer mit genügend viel Kleingeld ausgestattet sein mußte. Bezahlen, Geld wechseln, alles mußte unheimlich schnell vor sich gehen, um den Gästen das Wohlgefühl aufrechtzuerhalten. Am Stammtisch war das anders. Wir durften keinen Block zücken, der Stammgast gab uns das Geld und wir hatten zu wissen, wieviel jeder einzelne zu bezahlen hat und wieviel wir wieder zurückgeben mußten. Es sollte das Gefühl der unbedingten Vertrautheit vermittelt werden. Jeder kleine Fehler am Stammtisch könnte den Job kosten. Touristen kamen und gingen, die Küche war auf voller Tour. Unser Essen bekamen wir nach der großen Mittagswelle, ein Nachholen war nicht drin. Wir liefen sicherlich 20 – 30 km pro Tag, es war richtig anstrengend in einer 7-Tage-Woche. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir außer den Essenszeiten, irgendwelche Sitzpausen hatten, wir standen und rannten den ganzen Tag und hatten immer alle Gäste im Blick. Unser Platz war an der Theke, natürlich im Stehen. Im kleinen Zimmer gab es weder Fernsehen noch sonstige Unterhaltung, an Internet war damals noch nicht zu denken. Also war ich alleine, außer einmal, als ein Zimmermädchen an meiner Tür klopfte und sich ausheulte über die Arbeitsbedingungen und die überstrenge Gastwirtin. Sie war zuständig für die Sauberhaltung der vielen Gästezimmer. Sie hatte nie frei, ich auch nicht. Es war Weihnachtszeit, draußen lag der Schnee meterhoch, wir waren ja mitten im Skigebiet und zahlreiche Skitouristen besuchten die Gaststätte mit Fremdenzimmer in den bayerischen Alpen. So auch die Skifahrer aus meinem Donau-Dörfchen, wo sich herumgesprochen hat, daß der ehemalige Polizist und Tischtennistrainer, Student der Landwirtschaft, inzwischen zu einem Kellner mutiert ist. Und deshalb stand eines Mittags eine große Schar meines Freundeskreises im Gastraum des Hotels. Edeltraud und Robbi, Otto, Wolfi, Bodo, Nickel und Petra, Willi und Angelika und und und. Wie immer wies ich sie ein und stellte zwei Tische zusammen, um eine große Tafel zu ermöglichen. Am Ende hatte ich eine riesige Rechnung und eine große Einnahme für meine Gastleute ermöglicht. Ein Dank blieb aus. Dafür Kritik, wie jeden Tag.

Der 24.12. war frei. Eine riesige Herausforderung für mich. Noch niemals war ich an diesem Abend alleine gewesen. Der heilige Abend war von Kind auf der emotionalste und bedeutendste Abend des Jahres. Jetzt war ich alleine. An heilige Stunden in meinem Zimmer zu denken, war unvorstellbar. Also suchte ich Menschen, wo sonst als in einer Kneipe. Ich fand eine Kaschemme im Halbdunkel. Ein lange Theke und noch ein paar wenige Tischchen. Die Theke war gut, vielleicht konnte ich mit einem Nachbarn ins Gespräch kommen. Je länger der Abend, desto weniger Gäste und diese schienen mir noch mehr alleine und verloren zu sein als ich. Meine Gedanken kreisten um die heimlichen Stunden im Kreise meiner Familie, sie nahmen meine ganze Seele in Beschlag, Trauer und Einsamkeit schlangen sich um mein Herz. Der nächste Morgen mit routinierten Aufgaben rettete mein weihnachtliches Seelenleben.

„Allein in Immenstadt“ ein kalter Erinnerungsschauer überzieht mich. Sylvester erlebte ich dort nicht mehr. Noch vor Ende der Probezeit entschieden sich die kaltherzige Gastwirtin mit ihrem dicken bierbauchigen Gastwirt für den anderen Kellner-Aspiranten. Ohne Wehmut reiste ich nach vier Wochen Schule fürs Leben zurück ins Elternhaus, wo sich mein afrikanischer Bekannter langsam häuslich niederließ. Den Unmut meiner Eltern ließ ich abtropfen, ich war allzu sehr mit meinem Plan nach Brasilien auszuwandern, beschäftigt. Den ersten Schritt habe ich getan. Ich fühlte mich nun als fortgeschrittener Kellner-Lehrling. Spanisch paukte ich täglich. Nur leider traf ich jetzt eine wunderschöne dunkelhaarige Umweltaktivistin. Aber auch das sollte sich dem Satz von Egon Ohlsen unterordnen: ICH HABE EINEN PLAN!